Anna Nowak
SEHEN ALS FORMEN
Furcht und Schrecken umkreisen den Mars. Das sind keine Fake News. Phobos und Deimos (griech. Furcht und Schrecken) sind zwei kleine Monde, die 1877 von dem Forscher Asaph Hall gesichtet und nach den beiden Söhnen des Kriegsgottes Mars benannt wurden. Ebenfalls 1877 vom italienischen Astronomen Giovanni Schiaparelli entdeckt sind die canali (ital.), feinste Linienstrukturen, die den roten Planeten durchziehen. Diese Senken übersetzte der Wissenschaftler als canals (engl.) und löste damit einen Mars-Hype aus. Denn Kanäle können nur künstlich angelegt sein, was wiederum Rückschlüsse auf eine bereits bestehende Zivilisation zuließ und zu zahlreichen Mythen und Verschwörungstheorien führte. Unsere Entwicklungsgeschichte ist voller beispielhafter Fälle, bei denen die einfachsten Übersetzungsfehler weitreichende Folgen hatten. Fake News gibt es zwar, seitdem es Nachrichten gibt, doch insbesondere in unserem digitalen Zeitalter sind ungeahnte Beteiligungs- und Verbreitungsmöglichkeiten durch die sozialen Medien hinzugekommen.
Wie und mit welcher Absicht werden Geschichten erzählt? Umso wichtiger wird die Frage nach Glaubwürdigkeit, danach, wie wir Wesentliches und Wahres aus der alltäglichen Informationsflut filtern und wie wir uns als Menschen in dieser Welt verorten. Genau hier setzt Clara Lena Langenbach an. Übersetzungsfehler und Doppelbedeutungen sind Ausgangspunkte ihrer künstlerischen Praxis. Kurios, faszinierend, verwundernd sind die system-übergreifenden Transformationsprozesse,
die sie interessieren. Basierend auf recherchierten Überlieferungen experimentiert die Künstlerin vielschichtig mit unterschiedlichsten Materialien, entwickelt Skulpturen und erarbeitet raumgreifende Installationen.
Punkt, Punkt, Komma, Strich – fertig ist das Marsgesicht. Es bedarf nicht viel, um einen großen Interpretations- und dementsprechend Manipulationsspielraum zu ermöglichen. So versetzte 1976 ein Foto der Sonde
Viking, die auf dem Mars gelandet war, die Welt wieder einmal ins Staunen. Eine kleine Höhle als Auge, eine vorgewölbte Nase, ein dunkler Strich als Mund: Das Licht- und Schattenspiel auf der Aufnahme ließ ein menschliches Gesicht erkennen, so dass kegelförmige Berge in der Cydonia-Region prompt als Mars- Pyramiden gedeutet wurden. Seit 2012 untersucht die Curiosity den Planeten. Der autonome Rover, ausgestattet mit einer großen Zahl an Instrumenten und Kameras, bewegt sich auf der Marsoberfläche und schickt regelmäßig Messzahlen und Fotos an die Erde.
In der neu entstandenen gleichnamigen Serie Curiosity, 2022, greift Clara Lena Langenbach das Phänomen der Sinnestäuschung auf. In einer Landschaft aus klein- und mittelformatigen Bienenwachsskulpturen und -reliefs ertappt man sich dabei, Bekanntes in den eigenwillig anmutenden Formationen zu finden. Wie bei einer Pareidolie, bei der in Dingen und Mustern vermeintlich Vertrautes in Erscheinung tritt, werden hier Assoziationen hervorgerufen. Als Hilfestellung dienen filigrane Metallobjekte. Sie orientieren sich an Markierungen, die auf Abbildungen vom Mars hinzugefügt werden, um Fundstücke hervorzuheben. Zielgerichtet verweisen sie auf die Objekte und ändern den Fokus bei der Bewegung durch den Raum. Doch was wird hier markiert? Wer sucht, der findet: Finger und Fäuste beispielsweise. Die Skulpturen bestehen aus zusammengesetzten Positiven von physischen Abdrücken der sie formenden Künstlerin. Langenbachs Körperteile schreiben sich als formgebender Aspekt in die Skulpturen ein, und das Sehen als eine Art des Formens wird so spekulativ weitergedacht.
Auch die Serie Charms, 2022 ebenfalls für die Ausstellung produziert, greift das Motiv des Suchens nach bekannten Strukturen auf. Als Glücksbringer in den unterschiedlichsten Kulturkreisen verbreitet, baumeln übergroße Talismane (arab., Zaubergegenstand) an Gliederketten von der Decke. Wie an einem Bettelarmband sind an ihnen wiederum okkulte Anhänger befestigt, die bekanntlich als eindeutige Symbole, wie Hufeisen oder Herz, die unterschiedlichsten tradierten Bedeutungen haben. Von der Künstlerin aus Speckstein minimal bearbeitet lassen die Schmuckstücke dieser Arbeit jedoch bei der Deutung eher Rätselspiele zu.
I Was Here – der Titel der Ausstellung spielt auf den Versuch an, den Nachweis für die Wahrhaftigkeit eines bestimmten Ereignisses zu liefern und sich selbst dem öffentlichen Raum mitzuteilen – sei es durch Liebesschlösser an Brücken, durch Selfies vor Denkmälern oder als Text auf Hauswände gesprüht. All dies soll das Subjektive im Moment verkörpern, während es in einer Fülle von Schlössern, Selfies und Graffitis doch nur eins in einer Masse ist.
Unklare Körper wiederum sind sogenannte stumme Diener – bereits in der Antike nachgewiesen, haben sie eine klare Funktion als Ständer für Kleidung. Körperformen sind jedoch jeweils unterschiedlich. So entwickelte
Clara Lena Langenbach in der Arbeit Made-to-Measure, 2021, ausgehend von den normierten Möbelstücken vier individuelle Körper mit jeweils maßgeschneiderter Mode.
Ergänzt werden die Installationen durch eine kleinformatige Fotografie, die ihrerseits viele Vermutungen über ihre Entstehungsgeschichte zulässt. Die Aufnahme funktioniert wie eine Art Selbstporträt: Sie zeigt auf der Hand der Künstlerin einen kleinen, makellos runden roten Fleck, in ausgewogener Komposition mit dem Grün des Blattes im Hintergrund. Wer findet den Fehler? Auf einer Studienreise in einem Schmetterlingsgarten in Kambodscha ist das Bild eher zufällig entstanden. Es hält anhand eines Überbleibsels die Metamorphose eines Schmetterlings fest, der nach dem Schlüpfen eine rote Flüssigkeit namens Mekonium ausscheidet. Ein seltener und einzigartiger Augenblick, quasi als exklusives Beweisstück und etwas, das der Tatsache entspricht: I Was Here.