Nina Lucia Groß
Die längste Friedenszeit in der Geschichte Japans umfasst 250 Jahre – diese 250 Jahre liegen in der sogenannten Edo-Zeit von 1603-1868, in der die Tokugawa-Shogune herrschten. Nach der blutigen Einigung Japans unter seinen Vorgängern verlegte Shogun Tokugawa Ieyasu 1603 die neue Hauptstadt maximal weit entfernt vom Kaiserhof in Kyoto ins heutige Tokio, damals der unbedeutende Fischereihafen Edo. Der Shogun erarbeitete eine komplexe Strategie der Machtverteilung und Machtenteignung –es wurde ein Vier-Stände-System für die Bevölkerung eingerichtet, nur den Samurai war es noch erlaubt, Waffen zu tragen. Das Christentum wurde verboten, alle Japaner*innen mussten Gemeindemitglieder einer buddhistischen Tempelgemeinde werden. Alle ausländischen Missionare wurden des Landes verwiesen.
Die wohl drastischste Maßnahme war die Abschließung Japans – ab Mitte des 17. Jahrhunderts befahl das Tokugawa-Shogunat die totale Isolierung vom Ausland, alle Außenhandelsbeziehungen wurden abgebrochen, Nicht-Japaner*innen die Einreise auf Todesstrafe verboten. Einzig dem protestantischen Holland gelang es, da von ihm keine missionarische Gefahr ausging, als Niederländische Ostindien-Kompanie ein spezielles Handelsabkommen mit Japan abzuschließen und sich auf einer künstlichen Insel vor dem Hafen von Nagasaki niederzulassen.
Diese Insel – Dejima – wurde zum Einfallstor für westliche Wissenschaft und Technik. Neben den Handelswaren gelangten Instrumente aller Art, Bücher, Modelle, Arzneimittel, Ölgemälde, Karten, Globen und andere Objekte ins Land; sie führten nach und nach zu dem, was seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Rangaku (Hollandkunde) genannt wird.
Trotz seiner Abschottung war Japan damit nicht völlig unvorbereitet, als 1853 die sogenannten Schwarzen Schiffe unter dem Kommando des Amerikaners Matthew Perry in die Bucht von Edo einliefen, um die Öffnung des Landes zu erzwingen. Die Kolonial-bestrebungen der westlichen Mächte in Asien waren abzusehen gewesen, man wusste durch das „Hollandstudium“ über deren Technologien und Kultur Bescheid und hatte damit die Grundlage für die rasende Modernisierung und Aneignung okzidentaler Ästhetik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelegt. Auch das Ikebana, die traditionelle Form des japanischen Blumengestecks, wurde durch die Öffnung des Landes beeinflusst – neue, westliche Pflanzen und Blumen wurden in das Sortiment aufgenommen und die Arran-gements den neuen „western-styled“ Räumen angepasst, die inflationär in die japanischen Apartments Einzug fanden. Die Aneignung war aber keine einseitige – gerade das Ikebana stieß in Europa auf großes Interesse und wurde dort als Dekorations- und Kunsthandwerksobjekt aufgenommen, ähnliche wie viele anderen japanischen Kultur- und Kunsthandwerkstechniken, die mit dem wiedererlangten Zugriff auf Japan für den Westen zugänglich gemacht wurden und aus Japan heraus als Manifestationen der kulturellen Souveränität exportiert und kapitalisiert wurden. Dieses wechselseitige Interesse, dieser Kulturab- und vergleich, dieser prospektive Geschmacks-Handel, führte schließlich dazu, dass die Praxis des Ikebana Steckens ab 1888 in den Lehrplan für Mädchenschulen im westlich inspirierten Schulsystem Japans integriert und damit als nationales Kulturerbe geadelt wurde.
Das Ikebana ist eine eigenständige Kunstform des Blumenarrangierens, deren Anfänge bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen. Linearer Aufbau, Rhythmik und Farbe sind die relevanten Dimensionen der Gestaltung - Himmel, Erde und Menschheit – und damit das ganze Universum – sollen in den minimalistischen Gestecken symbolisiert werden.
Clara Lena Langenbach wählt das Ikebana als Form, als Gussform und gestalterische Vorlage, als Referenzrahmen und Style-Sheet für ihre sechs plastischen Arbeiten in diesem Raum. Anstatt Blüten, Blätter und Stiele arrangiert sie Kunstnägel, Haar-Extensions und Schlüsselbänder.
Würde man an die Dichotomie Natur-Kultur glauben wollen, würde sie diese hier auf den Kopf stellen – sieht man allerdings genau hin, so stehen die zurecht gezupften und beschnittenen organischen Bestandteile eines traditionellen Ikebana den mit Heißkleber collagierten Nippes, Alltags- und Konsumteilen in Claras Lena Langenbachs Gestecken in Sachen Artifizialität um Nichts nach. Das Feld, von dem sich Clara Lena Langenbach für ihre Gestecke bediente, sind die Geschäfte links und rechts und gegenüber dieses Raumes – die Geschäfte der Wandsbeker Chaussee – das war ihr Sammelrevier.
Zweithaar Profi Zakia, Schneppchenmarkt, Gap Hair Food & Cosmetics, Carepoint Sanitätshaus, 4-Shisha Shop Hamburg – das Angebot an der Wandsbeker Chaussee ist groß und mannigfaltig, die Straße eine, wie sie gerne „multikulti“ genannt wird. „Multikulti“, ein euphemistischer Begriff, wie er auch in Wohnungsannoncen und Stadtteilbeschrei-bungen verwendet wird, als Synonym für divers oder lebhaft. In der Begrifflichkeit werden nicht nur die Ursachen und Bedingungen für Migration und kulturelle Verdichtung unterschlagen, sondern auch mit Leichtigkeit und Leichtfertigkeit die westlich zentrierte Annahme von in sich abgeschlossenen – und national zugehörigen – Kulturen und ihren Ein- und Ausschlüssen weitergeschrieben. Ethnisch und national beseelte Kulturen stehen im Prinzip der Multikulturalität wie abgeschlossene Pakete, wie einzelne Ladenzeilen und voneinander unabhängige Schaufenster nebeneinander, ihren Unterschieden, die – so wird behauptet – „nunmal so gegeben sind“ wird mit „Integration“ oder „Toleranz“ begegnet, dabei aber weiterhin auf eine feinsäuberliche Trennung des Eignen und Fremden geachtet.
In Clara Lena Langenbachs ‚Blumengestecken’ lösen sich diese Trennungen und Grenzen auf – der ehemalige Blumenladen kollidiert mit dem heutigen Ausstellungsraum, die Erinnerung an die Blumenbouquets knüllt sich mit der Tradition des Ikebana zusammen,
die Waren und Artikel der einzelnen Läden verschmelzen zur arrangierten Flora einer Einkaufsstraße. Anstatt einer Multikulturalität vollzieht sich in den Ikebana Gestecken aus Aneignung, Zitation und Bezugnahme ein dichtes, unlösbares Knäuel – vielleicht ein Abbild der Globalisierung, wie sie von Byung Chul Han beschrieben wird: „Der Globalisie-rungsprozess wirkt akkumulierend und verdichtend. Heterogene kulturelle Inhalte drängen sich in einem Nebeneinander - Kulturelle Räume überlagern und durchdringen sich. (...) Die Kulturen implodieren!“
Die Kollision, die Implosion, die Verdichtung ist schließlich auch der Ausgangspunkt zu Clara Lena Langenbachs Ausstellung O U – nämlich die ganz große Kollision – der Big Crunch. „Wirft man einen Ball in die Luft, so kommt er ziemlich schnell zurück. Gravitationskraft und die Kraft des Wurfes verhandeln dabei den Moment der Umkehr. Die Theorie des BIG CRUNCH sagt Ähnliches für unser Universum voraus. Noch fliegt die Materie vom Urknall getrieben auseinander. Der Punkt (O) der Umkehr (U) kann nur vermutet werden, da es für eine Berechnung zu viele Unbekannte gibt. Ist die Gravitationskraft aber stark genug den Prozess umzukehren, so endet das Universum wie es begonnen hat: in einem Punkt“, einem Knäuel.
In Clara Lena Langenbachs Blumengestecken finden versprengte Teile wieder zurück zu einem Ganzen – und mit den einzelnen Bestandteilen Bruchteile ihrer Geschichten von Isolation und Globalisation, Migration und Metamorphose, Handels- und Kulturbeziehungen, Tradition und Hyperkapitalismus. Die Blumen werden zurück in den Blumenladen gesogen – verfälscht aber, verzogen, ausgetauscht, als wäre bei dem Big Crunch alles durcheinandergeflogen und etwas überrascht wieder nebeneinander gelandet. Zusammengelesen wird aus O U übrigens „ou“ – französisch für „oder“. Und so beginnt und endet die Ausstellung mit einer achselzuckenden Möglichkeit, einem Zögern vor endgültigen Aussagen und definitiven Prognosen – es könnte so passieren, oder –ou¬– auch ganz anders, das alles kann wirklich jenes bedeuten, oder –ou– etwas ganz Anderes.